Une jeunesse allemande, Das „rote Jahrzehnt" im Spiegel der Archive
Es beginnt mit einer Frage, die Jean-Luc Godard in den Raum stellt: „Ist es möglich, heutzutage in Deutschland Filme zu machen? In einem philosophischen Sinne?“ Es handelt sich um einen Ausschnitt aus „Der kleine Godard an das Kuratorium junger deutscher Film“ (1978) von Hellmuth Costard aus dem Jahre 1978, aber das erfährt man erst im Abspann. Nach Kriegsende konnte man, so der nächst Ausschnitt, nur auf die „jeunesse allemande“ hoffen, weil überall sonst noch immer Nazis saßen. Diese Jugend lässt sich nicht bitten, sondern provoziert, stellt unbequeme Fragen und muss – ein Ausschnitt aus „Ich bin ein Elefant, Madame“ von Peter Zadek zeigt dies – immer damit rechnen, dass die feiste Täter-Generation handgreiflich wird.
Dem Franzosen Jean-Gabriel Périot (Jahrgang 1974) gelingt mit „Une jeunesse allemande“ das Kunststück, die Geschichte einer Radikalisierung, die auch die Geschichte einer Kommunikationsverweiger ist, allein durch die kommentarlose Montage von bereits gefertigten Bildern aus Fernsehnachrichten, -reportagen, -diskussionen und diversen Spiel- und Agitationsfilmen zu kompilieren. Es ist eine exemplarische Geschichte, die keinen Anspruch erhebt, die „ganze Geschichte“ zu erzählen, Während also im Fernsehen die „Konkret“-Kolumnistin Ulrike Meinhof in Diskussionsrunder und Features Aufklärung fordert und dies aus einer Position heraus betreibt, die heutzutage etwa Jutta Ditfurth oder Sahra Wagenknecht einnehmen, wird in Berlin die DFFB gegründet, von der, wie Willy Brandt es bei der Eröffnung formuliert, „Künstlerische wie organisatorische Impulse“ ausgehen sollen, Diese Hoffnung erfüllt sich, aber auf andere Weise als gedacht, denn der erste Jahrgang der Filmstudenten verweigert sich fast ausnahmslos, dem „Apparat der Bewusstseinsindustrie anpassungswillige Film- und Fersenfachidioten“ zu liefern und macht stattdessen im Godard’schen Sinne Filme politisch, Holger Meins, Helke Sander, Hartmut Bitomsky, Gerd Conradt und Harun Farocki gehören zu diesem ersten Jahrgang, von dem später knapp die Hälfte relegiert wird, als das Gebäude besetzt und in „Dsiga Vertov-Akademie“ umgetauft wird.
Film als Waffe der sexy Aufklärung, wenn modisch gekleidete Studenten mit der roten Fahne zu flotter Rockmusic durch Berlin laufen. Die Ausschnitte aus einschlägigen Agitationsfilmen zeigen, dass die Studierenden sich mit allerlei Montage-Theorien auseinandergesetzt haben, um ihre Botschaften unmissverständlich zu machen, Aber noch immer geht es vorzüglich um Aufklärung und gegen die „Springer-Presse“: „Eine unwissende Armee kann den Feind nicht besiegen!“, heißt es einmal in der Manier von Maos „Rotem Buch“.
Nach dem 2. Juni 1967 und dem Tod Benno Ohnesorgs radikalisiert sich die Auseinandersetzung. Der Film sucht sich zielgenrichtet sein Personal zusammen – Ulrike Meinhof, Holger Meins, Horst Mahler, Andreas Baader, Gudrun Ensslin (die auch einmal als Schauspielerin zu sehen ist). Diese Konzentration auf die Erste Generation der RAF verengt die Dynamik der Bewegung Richtung Eskalation; spontaneis-tische Strömungen um die Gruppe Spur, die subversive Aktion un die Kommune 1 bleiben vergleichsweise unterbelichtet. Es ist Klaus Lemke, der im Zusammenhang der Dreharbeiten zu „Brandstifter“ (1969) davon spricht, gut verstehen zu Können, dass manche Akteure dahin manövriert wurden, das Anstecken von Kaufhäusern für gut zu befinden. Als Gegenüber agiert die arrogante Täter-Generation je nach Temperament in Gestalt von Franz-Josef Strauß und Helmut Schmidt, während „auf der Straße“ gerne mit schwäbischen Zungenschlag über Lynchjustiz und Todesstrafe „nachgedacht“ wird.
Auch wenn die Chronologie der Ereignisse zwischen 1966 und dem Oktober 1977 bekannt ist, wirkt die Logik der Eskalation, wie sie hier durch das montierte Originalmaterial aus Politikerreden und Fersehnachrichten rekonstruiert wird, gespenstisch. Die Protagonisten der RAF, die hier als die diskursive Auseinandersetzung Suchenden vorgestellt werden, sind lägst verstummt oder agieren als körperlose Stimmen ohne Bilder aus dem Stammheimer Gerichtssaal heraus.
Kurz vor Schluss diskutiert dann Rainer Werner Fassbinder in „Deutschland im Herbst“ (1978) mit seiner Mutter in der Küche über Demokratie und die Hoffnung auf einen freundliche Diktator, der es richten möge. Wenn man so will, eine teuer erkauftes Happy End, denn genau diese nicht freundliche, aber auf Augenhöhe stattfindende Diskussion wurde von staatlichen Autoritäten und ihren Repräsentanten lange verweigert, weshalb die APO „die Straße“ als Ort der öffentlichen Auseinandersetzung wählte.
Was dem Film auch eine erschreckende Aktualität verleiht, denn es existieren durchaus Parallelen, wenngleich mit radikal veränderten Vorzeichen, wenn man etwa an den aktuelle Umgang mit Pegida denkt.
Bewertung der Filkommission: In einer furiosen Kompilation aus Archivaufnahmen der 1960er- und 1970er-Jahre sowie Ausschritten aus Spiel- und Agitationsfilmen zeichnet der Film die Geschichte der sich radikalisierenden Studentenurruhen in Deutschland bis zu den Stammheim-Selbstmorden nach. Dabei legt er die gespenstische Logik der Eskalation frei, mit der sich studentischer Widerstand und staatliche Reaktion gegenseitig zum blutigsten Kapitel der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte aufschaukelten. Der Blick auf die erste Generation der RAF lässt andere Spielarten der Revolte außen vor, gewinnt aber in der Analyse einer Kommunikationsverweigerung mit Dissidenten gesellschaftlichen Ansichten bemerkenswerte Aktualität.
Ulrich Kriest
Filmdienst
14. May 2015